Hermann Götting - Portrait eines außergewöhnlichen Menschen

Hermann Götting einer der "Kölner Köpfe" am Appellhofplatz

 

Am 28. Juli 1993 kletterte ein bunt gekleideter Mann auf das Dach des Messeturms im Kölner Rheinpark. „Bewaffnet“ war er mit einer Flex, einem Schweißgerät und einer riesigen Portion Idealismus.

 

Sein Name: Hermann Götting

Das Objekt seiner Begierde:

 

Der neuneinhalb Meter lange, 4 Meter hohe und neuneinhalb Tonnen schwere Neonschriftzug „4711“, der seit 1948 das Dach des Messeturms zierte. Der aber mittlerweile der Firma Mülhens nicht mehr modern genug schien. 

Drei Tage hatte er gebraucht, um die Leuchtreklame samt vorliegendem Köln Schriftzug auf sicheren Boden zu bringen. Drei Tage, die ihm neben reichlich Spott auch jede Menge Respekt seitens der Kölner eingebracht hatten.

 

Dabei war das nur eine von unzähligen Aktionen dieser Art, die Götting in seinem Leben gestartet hatte. Er war wie besessen von dem Trieb, Alltagsgegenstände zu retten, die andere nicht mehr haben wollten. 

 

Der Paradiesvogel

Früher bin ich im oft auf den Straßen Kölns begegnet. Meistens im Belgischen Viertel, wo er lange Zeit gewohnt hatte. Er war eine imposante Erscheinung. Immer schrill gekleidet, bunt, im langen Gewand oder in einer seiner Fantasieuniformen.

Buch von Hermann Götting
Die Autobiografie von Hermann Götting

 

Als ich noch ein Kind war, das gebe ich zu, war er mir nicht ganz geheuer. Ja, damals habe ich wohl auch ab und zu die Straßenseite gewechselt, wenn er mir mit seinen großen Hunden entgegenkam.

 

Später, als Erwachsene, war ich von ihm fasziniert. Gesprochen habe ich trotzdem nie mit ihm. Heute tut es mir leid. Heute wünsche ich mir, ich hätte ihn näher kennengelernt.

 

Erst recht, nachdem ich sein Buch gelesen habe. Denn seitdem bin ich mir sicher, Hermann Götting war wirklich ein außergewöhnlicher Mensch. Nicht nur wegen seiner Kleidung. Die gerät in Anbetracht seiner wahren Person fast in den Hintergrund.

 

Allzu viele Menschen sind unfähig, irgend etwas zu verstehen, was sich außerhalb ihrer eigenen Erfahrungswelt abspielt […].

Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sie nicht so verdammt von ihrem Lebensentwurf überzeugt wären und mit ihrer maßlosen Ignoranz sogar über Leichen gingen.

Hermann Götting*

 

Geboren wurde Hermann Götting am 29. August 1939 in Neukirchen (Kreis Moers) in einem Heim für ledige Mütter. Aufgewachsen ist er bei seinen Großeltern in dem hessischen Städtchen Haiger.

 

Seine Vorliebe für extravagante Kleidung und vor allem für auffällige Hüte muss er wohl von seiner Mutter geerbt haben. Auch sie war für die damalige Zeit alles andere als konventionell gekleidet. Oft nahm sie ihn mit, wenn sie in den Cafés der Stadt ihr Geld mit Singen und Klavierspielen verdiente.

 

Der kleine Hermann saß dann in seinem schicken Matrosenanzug auf dem Stuhl und bewunderte, neben seiner Mutter, die nostalgisch plüschige Inneneinrichtung des Caféhauses. Eine Liebe, die ihn sein ganzes Leben lang begleitete. 

 

Berufswunsch: Straßenbahnschaffner

Schon als Kind träumte Hermann Götting davon, Straßenbahnschaffner zu werden. Irgendwie hatte er sich in diese alten ruckelnden Straßenbahnen, die in seinen Augen „etwas gemütliches“ an sich hatten, verliebt.

 

Nach der Volksschule arbeitete erst einmal in einer Tankstelle und danach in einem Eisenwerk. Als er alt genug war, bewarb er sich aber sofort bei der Siegener Kreisbahn und wurde auch eingestellt.

 

Im Grunde genommen konnte er hier auch seinem größten Traum - ein umjubelter Star zu werden - ein wenig näherkommen. Denn Götting machte einfach die Straßenbahn zu seiner Bühne, unterhielt die Fahrgäste mit allerlei Anekdötchen und fand in ihnen ein dankbares Publikum.

 

Anfang der 1960er Jahre, kurz nach seiner Wehrzeit, zog es Götting nach Köln. Auch hier begann er erst einmal als Schaffner bei der KVB. Als die Kölner Verkehrsbetriebe aber 1968 ganz auf Straßenbahnschaffner verzichteten, musste auch er sich nach einer neuen Stelle umsehen.

Von da an verdiente er seinen Lebensunterhalt im Kölner Nachleben. Erst als Barkeeper in verschiedenen Bars und Klubs, später als Conférencier im Travestie Theater.

 

Der Mensch Hermann Götting

Götting liebte es, Menschen um sich zu haben. In seiner Wohnung in der Richard-Wagner-Straße gingen Freunde und Bekannte, darunter viele Kölner Künstler, ein und aus. Er war ein perfekter Gastgeber. Beruflich wie privat.

 

Dass er auch für seine Freunde da war, wenn nicht alles eitel Sonnenschein war, zeigt folgende Geschichte:

 

Als Hermann Götting von dem schweren Unfall seines alten Freundes Johnny hörte, eilte er sofort zu ihm ins Krankenhaus. Es sah schlimm aus. Vom dritten Halswirbel an abwärts gelähmt, konnte sein Freund gerade mal den Kopf und ein wenig den linken Arm bewegen.

 

Als es hieß, er solle in ein Pflegeheim, nahm Götting ihn mit zu sich nach Hause und kümmerte sich um ihn. Das war natürlich nicht einfach, denn Hermann Götting war weder ausgebildeter Pfleger noch sonst in irgendeiner Weise medizinisch geschult.

 

Erst als man ihm Strafe androhte und vor Augen führte, dass er zur Verantwortung gezogen würde, falls etwas passiert, war er bereit seinen Freund in einem Pflegeheim unterzubringen. Und auch da kämpfte er weiter für eine menschenwürdige Behandlung, die sonst wohl alles andere als üblich war. 

 

Nicht nur Menschen, auch Tiere lagen ihm am Herzen

Ganz selten sah man ihn alleine durch die Stadt laufen. Fast immer war er in Begleitung seiner Hunde, die man übrigens nicht gerade als Schoßhunde bezeichnen würde. Erst waren es die Dogge Ivo von Haus Urfey und der Chow-Chow Wotan Wahnwitz, die mit ihm „das Dreigestirn“ bildeten.

 

Nach und nach kamen weitere Hunde dazu. Außerdem lebten noch etliche Katzen und Hasen mit ihm unter einem Dach. Alles Tiere, die er vor einem ungewissen Schicksal rettete. Es kam sogar vor, dass Bekannte ihm Tiere vorbeibrachten, weil sie wussten, dass er nicht Nein sagen konnte, sobald das Wort Einschläfern fiel.

 

Sammler aus Leidenschaft

Was ich ja total faszinierend finde, ist die Tatsache, dass sich Göttings Sammelleidenschaft anscheinend schon in seiner Kindheit entwickelt hatte. Oft zog er mit seiner Handkarre los und sammelte alles ein, was ihm gefiel, und was andere nicht mehr haben wollten. Mit diesen Schätzen füllte er jede Ecke im Haus seiner Großeltern, die darüber allerdings nicht wirklich erfreut waren.

 

Was mag dieser kleine Junge wohl in diesen Dingen gesehen haben? Er selbst bezeichnete seine Sammelleidenschaft als Manie. Es war für ihn wie ein Zwang, der ihn morgens aus dem Bett holte und auf die „Jagd“ gehen ließ.

 

Natürlich beherrschte diese Vorliebe für Antiquitäten und Trödel auch in Köln seinen Tag. Möbel, Leuchtreklamen, Kleidung, Schaufensterfiguren, Keramik aus mehreren Jahrzehnten, sogar ganze Ladeneinrichtungen. All diese Dinge übten auf Hermann Götting einen ganz besonderen Reiz aus.

Waren es für die einen ganz einfache Alltagsgegenstände, waren für ihn Objekte, die etwas zu erzählen hatten.

 

Klar, dass seine Wohnung und auch die Kellerräume aus allen Nähten platzten.

Gott sei Dank gab es in Köln einige Menschen, die ihm weitere Räumlichkeiten zur Verfügung stellten.

 

Zu Lebzeiten organisierte er mit seiner Sammlung einige Ausstellungen, unter anderem im Kölnischen Kunstverein. Das machte ihn zwar weit über die Grenzen Kölns hinaus bekannt, führte allerdings auch dazu, dass ihm noch mehr Gegenstände angeboten wurden, denen er nicht widerstehen konnte.

 

Sein großer Traum aber war ein Museum für Alltagskultur. Dieser Traum wurde im leider nicht erfüllt. Götting verstarb am 20. September 2004. 

 

Seine Beerdigung war genauso verrückt wie sein Leben

Damals habe ich direkt am Melatenfriedhof an der Trauerhalle gearbeitet und so konnte ich diese außergewöhnliche Beisetzung live miterleben.

 

In einer von Pferden gezogenen schwarzen Kutsche kam sein Sarg an der Trauerhalle an. Drinnen erwarteten ihn einige seiner Schaufensterfiguren, die alle in seine Kostüme gekleidet waren.

 

Nach der Trauerfeier begleiteten ihn etwa 800 Menschen auf seinem letzten Weg zu der Grabstätte auf Flur 28.

 

Grabstätte Hermann Götting
Hermann Göttings Grabstätte auf dem Melatenfriedhof, Flur 28

Hermann Götting hinterließ eine gigantische Sammlung von Alltagsgegenständen. Die Rede ist von nahezu 100.000 Objekten, die er mit der Zeit zusammengetragen hatte.

 

Außer ein paar Gegenstände, die im Stadtmuseum untergekommen sind, ist die gesamte Sammlung in ganz Deutschland verteilt. Vieles hat das Museum für angewandte Kunst in Gera erworben, wo ein Jahr nach seinem Tod eine Sonderausstellung stattfand.

 

Ich finde es so wahnsinnig schade, dass die Stadt Köln das Erbe Hermann Göttings nicht mehr respektiert hat.

Ich weiß, man soll nicht am Alten festhalten. Man soll das Alte aber auch nicht ganz vergessen, denn es hat so viel zu erzählen. Die Geschichten einer Stadt, ihrer Bewohner und vor allem Geschichten aus der Zeit, aus der es stammt.

 

Manche Menschen lassen sogar die Mattscheibe laufen, wenn sie Besuch bekommen. Sind die mittelmäßigen Schauspieler aus den Seifenopern tatsächlich schon wichtiger geworden als Freunde und Bekannte?

Hermann Götting*

Was hätte er wohl heute in der Zeit der Smartphones geschrieben?

 

*Die Zitate stammen aus Hermann Göttings Autobiografie „Die Figur dazu hab ich“

 

Kommentare: 7
  • #7

    Natalie Thomkins (Sonntag, 31 Oktober 2021 22:16)

    Eines Tages erzählte mir meine Mutter, sie sei bei einem aussergewöhnlichem Herrn zu Besuch gewesen, der einen Raum in seiner Wohnung in den zwanziger Jahren, einen in den dreissiger Jahren usw eingerichtet hätte! In den Räumen hätten Modepuppen in den entsprechenden Kleidern gesessen!
    Bald kam er auch zu uns zu Besuch und wurde eingeladen den Confroncier zu machen, als wir in unserem Haus ein mal eine Modenschau veranstaltet haben!
    Auf die Frage nach seinen Befinden antwortete er einmal:‘ seit drei Jahren lebe ich wie eine Nonne!‘

  • #6

    Monika (Donnerstag, 06 Mai 2021 15:44)

    Hallo Barbara,
    vielen Dank für deinen Beitrag. Es ist so schön, das hier noch solche Erinnerungen zusammengetragen werden.

    Zu deinem Verlust sende ich dir mein aufrichtiges Beileid.
    Liebe Grüße und alles Gute für die Zukunft.
    Monika

  • #5

    Barbara (Donnerstag, 06 Mai 2021 01:08)

    Mein im Januar verstorbener Ehemann Erich hat ihn in den 80er Jahren auf dem Antikmarkt in der Altstadt kennen gelernt. Kein Taxi wollte ihn mitnehmen mit seinen Hunden Ivo und Wotan und zwei riesigen antiken Leuchtern. Erich hat ihn in seinem PKW nach Hause gefahren und so sind wir ihm immer wieder in der Stadt begegnet. Im Why not etc. Einmal war er knapp bei Kasse und wir haben ihm aus seiner Wohnung in der Richard Wagner Straße einen alten Küchenschrank abgekauft,
    der heute noch in unserer Wohnung in Lindenthal steht. Er war eine außergewöhnliche Erscheinung

  • #4

    Monika (Montag, 16 März 2020 18:29)

    Hallo Gregor,
    danke, dass du deine Erinnerungen mit uns teilst. Er war wirklich ein interessanter Mensch. Schade, dass ich ihn nicht persönlich kennengelernt habe.

    Liebe Grüße
    Monika

  • #3

    Gregor (Freitag, 13 März 2020 21:29)

    Bin ihm oft auf Flohmärkten begegnet. War auch mit meinen Eltern eingeladen bei seiner ersten Vernisage zu Objekten der 50er Jahre im alten Flachbau des Kunstvereins am Neumarkt und habe ihn zuletzt im Beerdigungsinstitut an seinem kunstvoll verzierten Sarg besucht und Kondoliert. Schade das es ihn nicht mehr gibt. (Vor den großen Hunden hatte ich schon ein bisschen Angst gehabt, zum Schluß hatte er nur noch einen mittelgroßen weißen der glaube ich Taub oder Blind war). Habe noch viele Erinnerungen an ihn. Schade das die Stadt Köln seine Sammlung wie Dreck abgegeben hatte, aber es war wohl zu viel für die stets klamme Stadt.

  • #2

    Monika (Mittwoch, 26 Juni 2019 18:23)

    Wow, vielen Dank, Bernd!

  • #1

    Bernd (Mittwoch, 26 Juni 2019 06:24)

    Großartig, Monika!